Stricken am Morgen…
Stricken am Morgen
Kummer und Sorgen.
Stricken am Abend
Erquickend und labend.
Lange habe ich diesen Satz nicht wirklich verstanden.
Meine Grossmutter strickte eigentlich immer und selbstverständlich auch am Morgen. Doch ich hatte nie den Eindruck, dass sie „Kummer und Sorgen“ hatte. Abends sassen die Frauen und wir Mädchen zusammen und strickten, erzählten Geschichten, tratschten, diskutierten, sangen,… ein TV hatten wir damals noch nicht, sonst hätten wir vielleicht auch einfach ferngesehen. Das Vergnügen, unter meinen Händen etwas entstehen zu sehen, während der Kopf frei ist, sich in jede beliebige Richtung zu denken oder zu fühlen, dieses Vergnügen ist mir geblieben.
Nun bekam ich eine Kulturgeschichte des Strickens geschenkt und begreife nun, was hinter dem Vers steckt:
Wer am Morgen bereits strickte, tat das zum Broterwerb, musste in der Regel damit Geld verdienen. Die Arbeit war schlecht gezahlt, die Ansprüche hoch: „Da muss eine alte Frau lange für stricken“, sagt man, wenn etwas sehr teuer ist.
Wer hingegen am Abend strickt(e), tut es zur eigenen Unterhaltung, aus Vergnügen, nach getanem Tageswerk, mit sorgfältig ausgewählten Garnen und mit Liebe zu den Menschen, die damit beschenkt werden. Dankbar bin ich, dass ich zur zweiten Kategorie der Stricker*innen gehöre.
Was das mit „Mensch-sein“ oder „Mensch-werden“ zu tun hat?
Für mich hat Stricken eine kontemplative Dimension: die Hände bewegen sich ohne den Geist zu beanspruchen, an den im Augenblick des Strickens keine weiteren Ansprüche gestellt werden und der Tun kann, was er will. Stricken ist eine Atempause im Alltag … Für Sie auch?